Rückblick zur Ausstellung

Große historische Ereignisse erzeugen Bilder, die sich in das kulturelle Gedächtnis einbrennen. Ohne die Proteste vor der Nikolaikirche 1989 oder die Montagsdemonstrationen auf dem Ring ist die Friedliche Revolution in der DDR undenkbar. Diese Ereignisse im Leipziger Zentrum wurzeln aber in den Stadtteilen abseits der Innenstadt, die von Verfall und Leerstand geprägt sind. Ausgerechnet die Brachen im Leipziger Osten werden in den 1980er Jahren zu Treibhäusern der Revolution. In den Kirchgemeinden und Wohngemeinschaften des Viertels wächst eine Protestbewegung heran, die zum Sturz des Staates im Herbst 1989 beiträgt. Getragen von den Träumen von einem anderen Land, erwacht sie schon bald in einer völlig neuen Zeit.
Diese digitale Ausstellung zeigt diesen Umbruch im Viertel. Sie erzählt vom Aufbruch und der Ernüchterung, vom Alltagsfrust und dem politischem Engagement.

1. Kapitel: Frust, Verfall und Anderssein

Der Leipziger Osten ist ein besonderes Viertel. Im Schatten des nahen Zentrums gelegen, wird hier der Kontrast besondern deutlich, der zwischen dem grauen Alltag der 1980er Jahre und der sich weltläufig gebenden Messe besteht.
Städtebaulicher Verfall betrifft zwar ganz Leipzig, äußert sich hier aber noch deutlicher als anderswo. Ähnlich wie in Connewitz leben hier diejenigen, die oftmals am Rande der Gesellschaft stehen. Die meisten verstehen sich als unpolitisch. Politischen Protest nehmen sie kaum wahr.

Jenseits der sozialistischen Norm

Arbeiterklasse und Kleinbürgertum prägen vorwiegend das Leben im Leipziger Osten. Neustadt oder Volkmarsdorf werden aber auch zum Zufluchtsort für Menschen im sozialen Abseits.
In den 1980er Jahren wohnen hier auch viele, die der sozialistischen Norm nicht entsprechen. Systematisch bekommen entlassenen Häftlinge beispielsweise nur solche Wohnungen zugeteilt, die bereits für den Abriss vorgesehen sind.
Die schlechte Bausubstanz zieht aber auch Studierende, Unangepasste und Aussteiger an. Sie begreifen das Viertel als Biotop für ihre alternativen Lebensentwürfe.
Es sind Kneipen wie das Hoffmanns oder kulturelle Nischen wie das Kino der Jugend,in der diese bunte Mischung aufeinander trifft.

Verfall, Abriss, Neubau

Aufgrund der schlechten Wohn- und Lebensbedingungen sinkt schon seit den 1970er Jahren die Einwohnerzahl im Leipziger Osten stärker als in anderen Stadtteilen. Vor allem das Quartier um die Ernst-Thälmann-Straße wird berühmt-berüchtigt für seine Baufälligkeit.
Manche Häuser werden zwar teilsaniert, die meisten verrotten aber einfach vor sich hin oder werden radikal zurückgebaut wie im Rabet. Ganze Häuserblöcke werden sogar leer gewohnt, um danach Neubauquartiere zu errichten.
Auch dem Neustädter Markt droht dieses Schicksal. Die ihm zuvor kommende politische Wende verhindert zwar seinen geplanten Totalabriss, doch seinen weiteren Verfall hält es nicht auf. Das entzündet im Viertel den politischen Protest für die Rettung des Leipziger Ostens.

2. Kapitel: Treibhäuser der Revolution

Ausgerechnet der Verfall des Viertels bietet Möglichkeiten zur Entfaltung von Freiräumen. Leerstehende Wohnungen werden besetzt und zu Orten für alternative Lebensentwürfe im geplanten und verordneten Alltag der DDR.
Auch einige Kirchen des Leipziger Ostens entwickeln sich zu geschützten Räumen oppositionellen Denkens und Handelns.
Die gemeinsame Kritik am SED-Staat eint Kirchengemeinden und Wohngemeinschaften. Ob Lukaskirche oder Mariannenstr. 46, beide werden zu Treibhäusern der Revolution.

Kirche im Widerstand

Die Kirche ist die einzige Institution in der DDR, die Raum für oppositionelle Gruppen bietet. Wie groß oder klein dieser Raum tatsächlich ist, hängt von den Pfarrern und Gemeinden ab.
Im Gegensatz zu anderen Pfarrgemeinschaften kritisieren die Markusgemeinde und die Lukaskirche im Leipziger Osten das SED-System ganz offen.
Sie werden zu Zentren von Oppositionsgruppen, wie der Arbeitsgruppe Menschenrechte oder dem Arbeitskreis Gerechtigkeit, die das Recht auf Meinungs- und Reisefreiheit und auf Wehrdienstverweigerung einfordern.
Diese kirchlichen Basisgruppen gestalten zeitweise auch die Friedensgebete in der Nikolaikirche, die zum Ausgangspunkt der Montagsdemonstrationen im Herbst 1989 in Leipzig werden.

Freiräume für das Anderssein

Ein Großteil der Leipziger Oppositionsbewegung lebt in den 1980er Jahren im Leipziger Osten. Ihre Wohnungen und Hausgemeinschaften verstehen sie nicht nur als private Rückzugsorte, sie sind auch Räume von Andersdenkenden.
Das Quartier um die Eisenbahnstraße ist damals ein regelrechtes Biotop für SchwarzwohnerInnen. Dort finden sie genug leerstehende Wohnungen, die sie an der staatlichen Vergabe vorbei beziehen. Durch Zahlungen an die Hausverwaltungen werden sie schließlich zu legalen MieterInnen.
Die AktivistInnen sind kaum älter als 30 Jahre. Die meisten von ihnen gerade einmal Anfang 20. Ihr Anderssein, das sie in den Freiräumen des Leipziger Ostens ausleben können, wird zu einer der Säulen der friedlichen Revolution.

3. Kapitel: Aus dem Schatten der Öffentlichkeit treten

Ab Mitte des Jahres 1988 und verstärkt ab 1989 tragen die Oppositionellen aus dem Leipziger Osten ihren Protest immer offener auf die Straße.
Sie nutzen die Anwesenheit westlicher Medien zu Messezeiten und Ereignissen wie dem Kirchentag für öffentlichkeitswirksame Aktionen in der Stadt.
Trotz ihrer meist gewaltsamen Auflösung und den Festnahmen zahlreicher Beteiligter, reißen die Proteste in Leipzig nicht mehr ab. Sie entwickeln sich ab dem Herbst 1989 zu wöchentlichen Massendemonstrationen, die den SED-Staat schließlich zu Fall bringen.

Mit Straßenmusik gegen die Repression

Straßenmusik ist dem Staat ein Dorn im Auge. Um auch die Innenstadt mit Musik zu beleben, organisieren Leipziger Gruppen ein Straßenfestival, zu dem sie Musizierende aus der ganzen DDR einladen.
Trotz des Verbots kommen zahlreiche KünstlerInnen. Die Staatssicherheit löst die Veranstaltung gewaltsam auf und es kommt zu Festnahmen, aber auch zu spontanen Solidaritätsbekundungen und einer Protestdemo nach dem Friedensgebet am darauffolgenden Montag.
Die Veranstaltung wirkte weit über Leipzig hinaus, doch auch die Gewalt des Staates blieb in den Köpfen.

Protest an der Pleiße

Früher war die Pleiße ein Ort der Erholung, in den 1980er Jahren ist sie ein stinkender Fluss. Zum Weltumwelttag 1988 wollen AktivistInnen auf die Umweltverschmutzung aufmerksam machen und organisieren einen Gedenkmarsch.
Zwar gibt es zuvor Befragungen durch die Stasi, doch können die Aktiven ungehindert an der Pleiße spazieren und demonstrativ Wasserproben entnehmen.
Anders ist es beim 2. Gedenkmarsch 1989, wo während des Umzugs ins Zentrum viele Demonstrierende festgenommen werden. Intern schreibt die Stasi von 74 Personen.

Demokratie kennt keine Grenzen

Am 3. Und 4. Juni 1989 geht die chinesische Regierung gewaltsam gegen friedliche Kundgebungen der Opposition in Peking vor. Eine Gewalt, die von der DDR-Regierung unterstützt wird, in der Bevölkerung aber nicht ohne Protest bleibt.
Im Juli, nach dem Abschluss des Kirchentages, ziehen 1000 Menschen von der Rennbahn ins Zentrum. Sie zeigen Plakate mit dem chinesischen Zeichen für Demokratie und der Losung Nie wieder Wahlbetrug.
Auf der Karli springen Stasi-Leute aus einer Straßenbahn und entreißen ihnen die Transparente. Wenig später löst die Polizei den Umzug auf.

Nikolaikirche – Gebete werden Demos

Am 25.09., dem Tag der ersten großen Montagsdemo, gestaltet die AG Menschenrechte um Pfarrer Wonneberger das Friedensgebet in St. Nikolai. Thema ist Gewalt.
Nach den Polizeieinsätzen in den Wochen zuvor, brennt die Frage von Gewalt(losigkeit) mehr denn je.
Unter Wonnebergers Leitung werden die Gebete seit 1988 zunehmend politischer und tragen so den Protest aus dem Osten in die Innenstadt.
Mit der Kirchenleitung kommt es wiederholt zu Auseinandersetzungen um die Inhalte der Gebete.
Doch die Oppositionellen setzen sich durch und lösen so die Montagsdemonstrationen aus.

4. Kapitel: Nach der Schlacht

Der Umbruch von 1989/90 verändert nicht nur die politische Landschaft des Landes und der Stadt, er wirkt sich auch auf den Leipziger Osten aus.
Im Süden der Stadt lebt der widerständige Geist in autonomen Zentren und Wohnprojekten fort. Die oppositionellen Orte des Leipziger Ostens verschwinden dagegen immer mehr.
Nicht mehr der Kampf gegen das System, sondern der Erhalt der historischen Bausubstanz, steht nun im Zentrum bürgerschaftlichen Engagements.
An den Häuserfassaden und in den Geschäften zieht zwar die neue Zeit ein und doch
verbleiben im Stadtteil Frust und Resignation.

Die Revolution entlässt ihre Kinder

Mit der Beseitigung der SED-Herrschaft endet auch die staatliche Repression gegen Oppositionelle. Kirchgemeinden und Wohngemeinschaften im Leipziger Osten verlieren damit ihre Bedeutung als Schutzräume und Keimzellen für Andersdenkende.
Die politischen Wohngemeinschaften lösen sich auf und viele BürgerrechtlerInnen verlassen das Viertel. Manche engagieren sich weiterhin politisch, nun jedoch meist in Parteien oder Vereinen.
Die Forderungen nach Einheit und D-Mark lassen die ursprünglichen Träume und Hoffnungen vieler Oppositioneller auf eine andere DDR platzen.
Den Leipziger Osten bestimmen stattdessen vermehrt antidemokratische und rechtsextreme Gruppierungen. Organisierte Neonazis wie die Reudnitzer Rechte oder die Hitlerjugend Schönefeld prägen hier das politische Klima Anfang der 1990er Jahre.

Es bleibt alles anders

In den 1990er Jahren bestimmen Verfall und Abriss auch weiterhin den Alltag im Leipziger Osten. Die geplante Beseitigung der Gebäude um den Neustädter Markt geben aber Anstoß zur Gründung einer der ersten Bürgerinitiativen.
Der Neustädter Markt e. V. engagiert sich für den Erhalt der Bausubstanz und die Sanierung der baufälligen Immobilien.
Die Bevölkerung im Viertel schrumpft dennoch. Anfang der 1980er Jahre leben noch über 13.000 Menschen in Neustadt-Neuschönefeld. Im Jahr 2000 sind es nur noch knapp 9.000. Der Leerstand wächst auf bis zu 40 Prozent.
Doch die entstehenden Freiräume des Viertels ziehen auch wieder diejenigen an, die sich ein neues Leben aufbauen wollen. Ab den 1990ern ziehen vermehrt MigrantInnen und in den letzten Jahren Studierende sowie Kultur- und Kunstschaffende in den Stadtteil.
Wiederum sind die Brachen Orte der Möglichkeiten. Es bleibt alles anders.